Aufarbeitung
Insbesondere im Fall eines konkreten und nachweislichen Übergriffs bedarf es sowohl einer unabhängigen juristischen als auch sozialwissenschaftlichen Aufarbeitung der organisationalen Dynamiken, um überprüfen zu können, inwiefern jene Dynamiken den Übergriff begünstigt haben. Eine derartige Überprüfung lässt sich dabei nicht mehr intern regeln, sondern es empfiehlt sich ein unabhängiges Expert*innenteam zu beauftragen und folgende Bausteine zu untersuchen: Klärung Straf-, arbeits- und dienstrechtlicher Fragen, Sammlung aller relevanter Fragen des Übergriffs, Klärung von Folgeproblematiken und Belastungen der unmittelbar und mittelbar betroffenen Menschen, Bereitstellung eines Betroffenencoaches, Identifikation der strukturellen, institutionellen und fachlichen Risikofaktoren, die den Übergriff bzw. die Grenzüberschreitung ermöglicht haben, Klärung zum Vorgehen und der Ressourcen von Entschädigungszahlungen und vieles mehr.
Aufarbeitungen durch Expert*innenteams müssen sich dabei stets bewusst sein, dass sie eine machtvolle Position einnehmen und Verantwortung dafür tragen. Aus der Perspektive des persönlichen Lebens ist beispielsweise im Verhältnis der Betroffenen zu den Expert*innen der Aufarbeitung auszuhandeln und auszuhalten, dass z.B. eine Person viel von sich persönlich preisgibt und die Expert*innen – zumindest auf dieser persönlichen Ebene – erst einmal gar nichts anbieten. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung von Vertrauen ethisch bereits vielfach diskutiert. Oft wird die „Herstellung von Vertrauen“ dabei reduziert auf Transparenz über das Aufarbeitungsanliegen, Informationen über den Aufarbeitungsverlauf, informierte Einwilligung, Datenschutzerklärungen etc.
Grundsätzlich stellt sich aber die Frage, was für eine Form des Vertrauens (vgl. Tiefel/Zeller 2014) bzw. auf welcher Ebene Vertrauen hergestellt wird? Handelt es sich hierbei um eine Form des Systemvertrauens? Oder handelt es sich um eine Form des persönlichen Vertrauens, d.h. in die aufarbeitende Person? Es ist dabei in Aufarbeitungen immer zu beachten, dass sie aus dem „dazwischen“ der Vertrauensformen nicht herauskommen. Vertrauen in Aufarbeitungen speist sich aus der Position des Systems Wissenschaft in unserer Gesellschaft sowie organisational-konzeptionellen und persönlichen Aspekten. Damit stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie es gelingen kann in diesen Verflechtungen, Macht und Asymmetrie nicht zu verschleiern bzw. reflexiv zu halten?
Letztlich lassen sich die Asymmetrien und Verflechtungen nicht auflösen, sondern sind immer wieder zu öffnen und für alle Beteiligten reflexiv zu halten – aus diesem Grund gilt es stets ein Konzept im Vorfeld zu entwickeln, welches genau jene Asymmetrien und Verflechtungen versucht offen zu halten. Es bedarf darum – wenn man so will – auch eines Schutzkonzept für die Betroffenen (vgl. Oppermann et al. 2018) in Aufarbeitungsprozessen, so dass für sie jederzeit Voice-, Choice- und Exit-Optionen bestehen. Denn: Betroffene begegnen der Aufarbeitung als ungeschützte Privatpersonen, während die Expert*innen häufig eine mächtige Organisation im Hintergrund haben.
Aus diesem Grund empfiehlt es sich eine Betroffenen-Organisation systematisch einzubinden (und auch im Finanzierungskonzept zu berücksichtigen!) sowie eine Beratung und Beschwerdemöglichkeit für die Betroffenen (vgl. Enders/Schlingmann 2018) auch gegenüber der Aufarbeitung vorzusehen. Diese Organisationen ihrer Wahl können die Betroffenen, soweit sie es wünschen, während des Aufarbeitungsprozesses begleiten und beispielsweise im Vorfeld mit den Betroffenen gemeinsam erarbeiten, was erzählt werden möchte, was nicht oder auch wie das Erzählte aufzuarbeiten ist.
Wir möchten abschließend daher dafür plädieren, dass sich Aufarbeitungen stärker aus einer kritisch-reflexiven Perspektive oder auch auf einer Metaebene damit auseinandersetzen müssen, was sie wie und warum genau tun und versprechen. Es geht darum, einen Beitrag zu leisten, das Recht der Betroffenen auf Aufarbeitung zu verwirklichen.
Nur wenn sich Aufarbeitung transparent positioniert, die damit einhergehenden Ambivalenzen offenlegt, eigene Schutzkonzepte mit den Betroffenen gestaltet und ihre Grenzen auch gegenüber Betroffenen markiert, kann sie einen Rahmen schaffen, um nicht ihrerseits erneut zu verletzen.